Das Personalpronomen

 

Ich bin ein kleines, unbedeutendes Personalpronomen. Ich wuchs auf in einem Tagebuch zwischen Belanglosigkeiten und alltäglichen Problemstellungen, ein Leben zwischen Schublade und Schreibunterlage. Aber dieses eintönige Leben genügte mir nicht. Eines Tages fasste ich den Entschluss, mich zu verändern, und seither wartete ich nur darauf, bei der nächsten, günstigen Gelegenheit zu fliehen.

Es kam, wie es kommen sollte; mein Herr hatte gerade ein paar flüchtige und unehrliche Empfindungen notiert als er das Tagebuch unwirsch zuklappte. Glücklicherweise war ihm ein Eselsohr am unteren Seitenrand entgangen, und durch dieses, Eselsohr zwängte ich mich ans Außenlicht. Kaum hatte ich festen Schreibtisch unter den Füßen, rannte ich los und genoss die neue Welt, in der ich mich frei bewegen konnte.

"Ich bin jetzt frei!" dachte ich und stürmte ausgelassen über die Schreibtischebene, turnte über Büroklammern und rieb mich neugierig am Radiergummi. Nicht lange dauerte es, da fiel mein Blick hinüber zu den einflussreicheren Büroartikeln, die ich wohl oft aus dem Seitenwinkel, aber noch nie aus der Nähe betrachten konnte. Respektvoll bestaunte ich die spitze Klinge des Brieföffners, den Locher mit seinen riesigen Eisenkolben und die mörderischen Greifer des Tackers. Vorsichtig zupfte ich am gläsern-breiten Tesafilmband, das einige meiner besten Jugendfreunde auf dem Gewissen hatte und musterte den giftigen Stachel des Bleistiftes. Gerade als ich frohgelaunt über einen breiten Filzstift balancierte, ging plötzlich das Licht an.

Sofort warf ich mich hinter die Schutzkappe, robbte hinter einen Karteikasten und bedeckte mich notdürftig mit einem Notizzettel. Dort harrte ich zitternd aus und hoffte, dass mich diese Schwäche nicht auffällig machen würde. Nach einer Weile war ich mir sicher, unentdeckt geblieben zu sein. Ich schob den Notizzettel ganz langsam beiseite und schaute mich vorsichtig um. Mein Herr wühlte in der untersten Schublade des Schreibtisches, aber das Eselsohr schien er nicht bemerkt zu haben. Wenn es mir nur gelänge, das Taschenbuch am anderen Ende des Tisches zu erreichen. Andernfalls war es nur noch eine Frage der Zeit bis man mich aufspürte. Und zurück ins triste Tagebuch wollte ich um alles in der Schrift nicht mehr. Da fiel mein Blick auf einen großen, dichten Staubflusen, der unweit von mir neben dem Spitzer lag.

"Gut, dass hier niemand sauber macht!" murmelte ich und lächelte. Ich zog den Flusen an mich heran, verbarg mich hinter ihm und konnte so unter seinem Schutz den Buchrücken erreichen. Ich hatte Glück, denn ein dickes Buchzeichen bot mir Gelegenheit ins Innere zu gelangen.

Als ich mich unbeobachtet wähnte, schlüpfte ich in das Buch hinein. Geschafft! Ich war zunächst in Sicherheit, aber was erwartete mich im Inneren dieses Taschenbuches! War ich in einem Roman oder einer Tabellenkalkulation gelandet? Staunend betrachtete ich die Eingangshalle. Wie sauber und ordentlich hier alles war und sogar ein Inhaltsverzeichnis gab es, das war ich von zu Hause nicht gewohnt! Ich überquerte den Buchdeckel, stieg ins Verzeichnis und ließ mich ins erste Kapitel bringen.

Als ich ausgestiegen war, bot sich mir ein überwältigender Ausblick. Vor meinen Augen tummelte sich eine unüberschaubar große Masse von Worten. Nie hatte ich eine solch wunderbare Sprachlandschaft gesehen, niemals zuvor so blumige Formulierungen und ein so aussagekräftiges Vokabular kennengelernt. Die meisten Wörter rannten geschäftig umher, arbeiteten gewissenhaft an ihren Zeilenpositionen. Satzzeichen gaben Anweisungen und markierten mit Linealen den Zeilenboden. Einige saßen bei ihren Familien und summten Sprachmelodien vor sich hin, andere suchten verzweifelt ihre Satzpartner. Einige besonders lange und bedeutungsvolle Worte saßen an Schreibtischen und telefonierten, berechneten irgend etwas oder rauchten schweigend Ringe in die Luft.

Unweit des Seitenrandes beobachtete ich eine Anzahl von eleganten Formulierungen und stehenden Redewendungen, die zu einer gewaltigen Überschrift aufsahen, die sich über den gesamten oberen Seitenrand erstreckte. In geringer Entfernung daneben fielen mir ein paar außerordentlich gut gekleidete Verhältnisworte ins Auge, die heftig miteinander diskutierten; das mussten die Superlative sein! Ich hatte schon viel von ihnen gehört. Drei Zeilen darunter wurden fremdartige Nomen - die wahrscheinlich nur zu Gast waren - in ihre Satzstellung eingewiesen.

Einige von diesen Fremdworten führten wichtigtuerisch kleine, hochgestellte Zahlen am Kopf. Mit Mühe überwand ich eine Kette von hochkomplizierten Schachtelsätzen, die offenbar während der Stellproben erschöpft eingeschlafen waren. "Darf ich fragen, welchem Satzbau Sie zuarbeiten?" fragte plötzlich eine Stimme hinter mir und nach einer Weile schärften sich die Umrisse eines langen, unförmigen lateinischen Sprichwortes. Doch ich kam gar nicht zu einer Antwort, denn fast gleichzeitig brüllte jemand hinter mir: "Achtung! Stillgestanden, im Gleichschritt, Marsch! Nicht einschlafen, hört ihr, sonst mach ich Buchstaben aus euch!"

Eine größere Gruppe von Hilfsverben marschierte - von einem fiesen, ordinären Hauptwort angetrieben - in Blocksatz und engem Zeilenabstand an uns vorüber. Sie waren allesamt blas und trugen schwere, unhandliche Passivkonstruktionen auf dem Rücken. Der unförmige Lateiner erklärte in gedämpftem Ton: "Die armen Kerle müssen heute noch ins vierzehnte Kapitel. Da ist eine Seite herausgerissen!" Als die Blocksatzkompanie sich entfernt hatte, plauderte er drauf los: "Ich bin ganz aufgeregt, man erwartet mich in der Maske! Das erste Mal, dass ich kursiv eingesetzt werde!" sagte er stolz: "Waren Sie auch schon einmal?"

"Nein." antwortete ich, "bei uns ist das selten. Ich kann mich nicht erinnern, dass jemand ...außer meinem Urgroßvater vielleicht, der hatte eine herausragende Stellung unter einem Mann namens Siegmund Freud." Wahrend ich ihm antwortete, musterte mich der Alte fortwährend und schließlich fragte er voller Missvertrauen: "Sagen Sie mal, Sie sind so blass und gar nicht ordentlich gedruckt?" "Da haben Sie recht" antwortete ich frei heraus. .Ich stamme aus einer eher händlichen Gegend. Aber sagen Sie, fällt meine Erscheinung sehr auf?" "Nun, lassen Sie sich bloß nicht erwischen", erwiderte er zögernd, "immer schön gerade stehen, besonders beliebt sind die Anhänger der Handschrift hier nicht." Als ich ihn ängstlich anblickte, fügte er jedoch nicht ohne Eitelkeit hinzu: "Junger Mann, ich pflege sehr intensive Kontakte zu den griechischen Fachtermini, und da Sie nicht gerade wie ein umgangssprachlicher Ausdruck aussehen, wird man Ihnen dort weiterhelfen können."

Mit diesen Worten verschwand der Alte spurlos.

Ich war langsam weitergegangen und wollte gerade einen Absatz überqueren, da hörte ich eine Stimme, die offenbar mit sich selbst sprach.

"Dreiundzwanzig, vierundzwanzig, fünfundzwanzig ..."

"Entschuldigung," fragte ich höflich, "was tun Sie da?"

"Vierundzwanzig, pscht, fünfundzwanzig. Merken Sie denn nicht. dass ich gerade zähle! Sechsundzwanzig, siebenundzwanzig ..."

"Entschuldigen Sie nochmals die Störung. Ist das nicht sehr eintönig?"

"Achtundzwanzig... Hören Sie, mein Herr. Ich bin ein Numeral, Sie stören mich bei meinen Vorbereitungen. Heute bin ich die Achtzehn, aber schon morgen kann ich als Tausend gebraucht werden. Und das nennen Sie eintönig?"

"Verzeihung, ich konnte nicht ahnen, wie bedeutsam Sie sind. Wissen Sie, wie ich zu den griechischen Fachtermini komme?" fragte ich vorsichtig, aber das Numeral ließ sich nicht mehr zu einer Antwort bewegen. "Schon fast Abend." bemerkte ich mit einem Seitenblick auf eine adverbiale Bestimmung der Zeit. Im selben Augenblick sprach mich erneut jemand an.

"Bist Du es, Ich?" -"Du!" -"Das gibt's doch nicht. Ich!" -.."Bist Du es, Du?" -.."Ich!" -"Du!" -"Ich!"

Wir fielen uns um den Hals. Es war ein alter Freund, den ich noch aus dem Grundschulheft kannte. Voller Freude nahm er mich am Arm und wir ließen uns auf einer Leerzeile nieder. "Erzähl, was hast Du inzwischen gemacht? Wir haben uns ja seit Ewigkeiten nicht mehr geschrieben." Mein Freund nickte und sagte etwas betrübt: "Ich war lange im Duden. Es war keine sehr schöne Zeit. Kurz nachdem Du die Stelle im Tagebuch angetreten hattest, kamen Sprachwissenschaftler und schleppten uns alle fort. Ich habe meine Verwandten nur noch kurz im Plural gesehen. Aber eines Tages kam ein Schriftsteller und hat mich gegen Kaution rausgeholt. Ja, und seitdem arbeite ich hier im Roman. Die Arbeit ist nicht schlecht ein paar Briefe, ein paar wörtliche Reden ..." Wir unterhielten uns für eine ganze Weile, in deren Verlauf ich ihm auch von meiner aufregenden Ankunft im Roman Bericht gab, aber schließlich stand er auf und sagte: "Ich muss jetzt leider zur Arbeit, Seite 50, Zeile 4. Stellproben. Sehen wir uns am Kapitelende? Ich habe mich mit ein paar Reimwörtern zum Bier verabredet." "Ich werde da sein." versprach ich und wir verabschiedeten uns herzlich.

Es war inzwischen fast dunkel geworden als ich auf meinem Erkundungsgang eine wenig belebte Region passierte. Ein paar triste Adjektive huschten an mir vorbei, in der Ferne schrie eine abgetrennte Silbe um Hilfe. Eine Horde Onomatopoetika lärmte unverdrossen und scheuchte ein paar Gedankenstriche auf, die sich unter Protest entfernten. "Wie oft habe ich euch gesagt, ihr sollt nicht so spät nach Hause kommen. Habt ihr euch schon wieder mit den Geräuschen herumgedruckt? Ihr endet noch im Groschenroman, wenn ihr so weitermacht." schimpfte ein Femininum mit seinen Fußnoten, die sichtlich betroffen und in ängstlichem Flattersatz zusammenstanden.

Nach einigen Stunden war ich unversehens in ein Gebiet weit ab von der Seitenmitte geraten, das wohl eine Art Rotlichtviertel zu sein schien. Überall hingen schlüpfrige Bemerkungen am Fenster. Fäkalausdrücke hallten zwischen den Zeilen wider und wechselten sich mit wüsten Beschimpfungen ab. Am Zeilenrand standen starkgeschminkte und gespreizte Konjunktionen auf hohen Absätzen, die ganz unverblümt auf ihre scharfen ß-Kurven aufmerksam machten. Ich atmete auf, als ich schließlich auf einen Kiosk stieß, dessen Leuchtreklame den Verkauf von nützlichen Verben verhieß.

"Ich such das Verb 'leuchten'. Haben Sie noch 'leuchten'?" fragte ich den Verkäufer.

"Nein. 'leuchten' ist aus, kein Wunder, bei der Dunkelheit, ich hätte noch 'glühen' für Sie.

Wollen Sie's gleich konjugiert oder soll ich's Ihnen für zu Hause einpacken?"

"Joo, wenn Sie's mir schnell konjugieren, das wär' schon besser."

"Oh Gott, ich seh gerade. In Ihrer Person hab' ich's leider nur noch im Plural da."

"Ich glühen. Nein, das geht nicht, wie sieht denn das aus? Das ist doch gar kein Deutsch."

"Substantiviert hätt ich's noch da, aber das klingt nich so ... .Ich bin am Glühen. Nee, das will ich nich, das is nich schön."

"Wissen Se was, nehmen Se doch brennen, bis Se zu Hause sind, ist da noch nichts passiert."

,,Ich brenne. n'bißchen auffällig, aber mir bleibt ja wohl nichts anderes übrig."

So machte ich mich brennend auf den Weg durch die dunklen Passagen der Kapitels. Etwa auf der Höhe eines dunklen Vokals geschah es dann, dass eine Anzahl unbestimmter Artikel mir den Weg verstellte und mich zur wörtlichen Rede herausforderte. .."Habt Ihr nichts besseres zu tun, als ordentliche Personalpronomen zu belästigen?" fragte ich mit größtmöglichem Selbstbewusstsein. Das machte Eindruck und die Artikel verschwanden im Ungefähren. Kurz vor Kapitelende passierte ich eine Gruppe von betrunkenen Amerikanismen, die sich über meinen Verb-Erwerb lustig machten. "Hey, Mister, can you light my fire, please?" feixte einer, und die übrigen schlugen sich auf die Endsilben.

Plötzlich bebte der Buchrücken, gleißendes Licht strömte ein, und am Buchhimmel tauchten zwei große schwarze Glaskugeln auf..."Das ist der Leser. Versteck Dich!" flüsterte mir mein alter Freund zu, der plötzlich neben mir stand. Ich konnte mich gerade noch hinter einem mir ähnlichen Reflexivpronomen verbergen und schaute mich angstvoll um. Ich traute meinen Augen kaum, denn das ganze bunte Treiben hatte sich augenblicklich in eine klare, übersichtliche Ordnung verwandelt; die Worte standen in Reih' und Glied nebeneinander, bildeten Sätze, hielten regelmäßige Abstände ein und selbst die Ränder waren wie vom Lineal gezogen gerade. Selbst die vorher wahllos herumliegenden Satzzeichen hatten ihre Position bezogen und schwiegen Mein Schulfreund stand ebenfalls mit hochgezogenen Schultern in einem Zitat und zwinkerte mir zu.

,Der Leser" dachte ich, "das muss so eine Art Kontrolleur sein."

Fast drei Minuten herrschte eine geisterhafte Stille, die schwarzen Kugeln kontrollierten Zeile für Zeile und schließlich wurde mit Hilfe von feuchten Riesenwürsten die Seite langsam umgewendet. Ich wagte kaum zu atmen, als irgendwer am unteren Zeilenrand rief:

 

,Das war's, Kinder. Feierabend! Schluß für heute!"

LARS REICHOW