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Theos Baum »Auf der Reise hab ich ein paar Sachen aufgeschrieben. Und ab
und zu auch Zeichnungen gemacht, siehst du? Die letzte ist einfach nur ein
Baum. ich werd's dir erklären. Die Religionen sehe ich als die Äste eines
Baums. Ein einziger großer Baum mit gewaltigen Wurzeln, die unter der ganzen
Erde entlangwachsen. Sie wachsen alle in dieselbe Richtung, zum Himmel. Hier
kommt der Stamm ganz gerade und sauber aus der Erde. Der Baum ist ein
afrikanischer Affenbrotbaum, weil man da auf die Rinde schreiben kann, was
man will. Lies selbst: >Gott ist für das Wohl des Menschen< steht auf
dem Stamm.« » Du bist also keinem
einzigen bösen Gott begegnet«, folgerte sie. »Moment! Der gemeinsame Stamm
der Religionen begnügt sich nicht damit, zu sagen, dass Gott gut ist! Daneben
habe ich auf eine Karte alle seine Vorschriften geschrieben, die nicht auf
die Rinde passen. Die Gebrauchsanweisung, wenn du so willst. Gott ist für das
Wohl des Menschen ‑ aber unter bestimmten Bedingungen: dass man ihn
ehrt, dass man ihn bittet und zu ihm betet, dass man ihm Opfer bringt.
Ansonsten wird Gott schrecklich! Er bringt die Sintflut, Exil, Krieg, Dürre,
Blitzschlag, ganz nach Belieben. « » Sodass der Mensch Gott
gegenüber Verpflichtungen hat«, fügte Oma Theano hinzu. »Das gehört auch noch zum
gemeinsamen Stamm. Die Gebrauchsanweisung des Baums ist tierisch lang! Alle
Religionen wollen ihre Gläubigen vereinen und schützen. Um das zu erreichen,
stellen sie Forderungen ‑ es steht überhaupt nicht zur Debatte, auch
nur einen Fingerbreit von den eigenen Positionen abzuweichen. Ein Baum wird
mit sauberem Wasser gewässert. Da darf man weder dranpinkeln noch ihn
beschädigen, indem man seinen Müll draufkippt. Es darf auch keine
Verschmutzung geben! Also achten die Religionen sehr auf die Reinheit. Auch
der Schutz gegen Verunreinigung gehört zum gemeinsamen Stamm. Auch der
Dünger, der „Opfer“ heißt. Bis zu dem Punkt ist alles gleich.« »Aha. Und was passiert dann?« »Es kommt vor, dass die
ersten Gärtner Gottes sterben. Ihre Nachfolger streiten sich. jeder Gärtner
hat seine eigene Vorstellung über den richtigen Dünger. Für den ersten ist es
Tierblut, für den zweiten Wein und Brotkrumen, für den dritten nur Wasser,
der vierte will Mineralwasser, der fünfte gefiltertes Wasser, der sechste
will nur Feuer, um das abgefallene Laub zu verbrennen, der siebte will nur
Luft, kurz, es sind Ökologen, die sich über die Methoden streiten. Eines
schönen Tages veröffentlicht jeder von ihnen seine eigene Gebrauchsanleitung,
wie der Baum zu pflegen ist. Damit ist alles im Eimer. Alle Religionen
beginnen sich zu verteidigen und sich zu bekämpfen. jetzt ist nichts mehr zu
machen. Wenn der Baum jedes Jahr im Frühling wieder auszuschlagen beginnt,
dann behält jeder Gärtner einen Ast für sich, und jeder Ast hat seinen Gott.
« »Interessant«, sagte Oma
Theano. »Was machst du mit den Zweigen?« »Wie? Aber das ist doch ein
Baum, also bringt er Zweige hervor, das ist doch ganz natürlich! Weißt du,
was mit dem Baum passiert? Wenn man ihn nicht beschneidet, dann geht es ihm
immer schlechter. So ist das! Wenn jetzt zufällig ein Hauptast des Baums
keine Blätter mehr hervorbringt, taucht ein neuer Gärtner auf, um ihn
abzuschneiden. Und jedes Mal treibt er wieder neu. In dem Moment, wo das
Judentum zu vertrocknen beginnt, kommt der Gärtner Jesus und schneidet den
toten Ast ab. Und so entstehen zwei schöne Äste anstelle von einem. Ein
alter, ein neuer. Als sich auf dem Ast des Christentums ein Baumpilz
verbreitet, kommt der Gärtner Luther und reißt den Ast mit einem Ruck ab,
ohne ihn zu behandeln. Und er treibt wieder aus. Als der Ast des
Brahmanentums im Frühling nicht mehr weiterwächst, kreuzt der Gärtner Buddha
auf und säubert ihn. Und so geht es immer weiter ... « »Du magst die Gärtner, sehe
ich ... Aber wo kommen sie her?« »Das weiß ich nicht so genau.
Sie sagen, sie seien Gesandte Gottes. Anscheinend haben sie besondere
Beziehungen zum Baum, sie nennen das Offenbarungen. Sie sind auf das Gebirge
gestiegen oder haben sich in die Wüste, in die Wälder, in den Schnee
zurückgezogen ‑ auf jeden Fall weit weg. Sie sind ein bisschen verrückt
und sehr weise. Und sie sind sich ganz schön ähnlich! Moses, Jesus,
Mohammed, Buddha, Joseph Smith »Wer bitte?«, fragte Oma
Theano verwundert. »Der Amerikaner, dem Gott das
Buch Mormon geschickt hat. Es sind vorzügliche Gärtner, nicht wahr? Warum
machen sie dann ihre Arbeit so schlecht? Sie sind nicht in der Lage, Schüler
auszubilden. Kaum sind sie tot, kommt es zum Streit! Anstelle eines einzigen
schönen Zweiges siehst du drei, vier, sechs, so viele, wie es neue Gärtner
gibt! Ich mag ja die Leute, die den Baum auslichten, aber wenn sie es getan
haben, dann verschwinden sie." »Es ist ja nicht ihre Schuld,
wenn sie sterben«, bemerkte Oma Theano. »Aber ich fang schon an, dummes Zeug
zu reden! Christus ist nicht tot, das ist es ja gerade ... « "Stell dir vor, er ist
nicht der Einzige! «, rief Theo. »Mohammed ist auf seiner Stute vom Dach der
Moschee in Jerusalern weggeflogen, Buddha ist ins Nirwana eingetreten, und
ich kann dir haufenweise Imams nennen, die verschwunden, aber nicht tot sind.
Moses ist wirklich gestorben. Aber die andern! Niemand will zugeben, dass
diese Ausnahmegärtner Menschen sind." »Aber hör mal, Christus ist
der Sohn Gottes! «, rief Oma Theano empört. »Er ist der einzige Gärtner,
der Sagt, woher er kommt«, sagte Theo. »Aber man muss es glauben. ich weiß es
nicht genau. Du ja. Ich interessiere mich für den ganzen Baum. Einem Baum
passiert eine ganze Menge. An seinem Fuß kann Efeu oder eine andre
Kletterpflanze wachsen. Wenn die Gärtner nicht aufpassen, dann wuchert der
Efeu über den ganzen Baum. Das gibt dann die Fundamentalisten und das ist
tödlich. « »Einverstanden«, stimmte sie
zu. »Wie geht es mit deinem Baum zu Ende?« »Es geht mit ihm nicht zu
Ende. Mein Baum ist hartnäckig. Die guten Äste halten. Sie werden beschnitten
und treiben wieder aus oder bringen andre Zweige hervor. Die andern werden
ausgeschnitten oder fallen schließlich ab. Der Baum selbst wächst immer
weiter. « »Man könnte meinen, du
hättest nie etwas vom Baum der Erkenntnis im Paradies gehört ... « "Doch Ich werd dir
erzählen, wie ich die Geschichte sehe. Am Anfang war der Baum. Die Menschen
wollten nur eines: so hoch wie möglich klettern, dorthin, wo die Blätter des
Baums die Wolken berühren. Sie haben eine Leiter errichtet, die gute Dienste
leistete. Eines Tages hat ein Schlaumeier die Leiter zerbrochen, um zu sehen,
was passiert. Es gab keine Möglichkeit mehr, nach oben zu kommen! In allen
Religionen findest du so einen Schlaumeier. Dann sind die Gärtner gekommen,
um andre Möglichkeiten auszuprobieren ‑ den Baum so hoch wie möglich
wachsen zu lassen, es den Menschen zu ermöglichen, zu klettern. Sie haben
nicht aufgehört zu klettern . ..« »Und die teuflische Schlange?
Und der Apfel? Was machst du mit der verbotenen Frucht der Erkenntnis?«,
fragte sie. »Die teuflische Schlange ist
schnell erklärt! ich kenne indische Zweige des Baums, bei denen die Schlangen
ganz anständig sind, dort sind es sogar göttliche Schlangen! Und was willst
du denn: Ich kann mir nicht vorstellen, dass Gott die Erkenntnis verbieten
könnte. Oder sag mir, was ich auf dem Gymnasium soll? Das würd ich gern
wissen! « »Du glaubst also nicht an die
Sünde?«, fragte sie besorgt. »Welche denn? Alkohol
trinken, rauchen, Kühe oder Schweine essen oder als Frau seine Haare zeigen?
Es gibt so viele Definitionen der Sünde, wie der Baum Zweige hat! Das steht
auch auf dem Stamm: Gott verbietet. Aber was? Das ist die Sache der
jeweiligen Gärtner.« »Mein Gott«, seufzte sie.
»Marthe hat es geschafft: Du bist ein Atheist geworden, genau wie sie! « »Aber das stimmt doch
überhaupt nicht, Oma! Ich hab die Kraft des Göttlichen gespürt, ich schwör's
dir! Nur hab ich sie eigentlich überall gefunden. Die Wurzeln äußern sich in
allen Zweigen. Aber wenn ich mich für einen Zweig entscheiden müsste, hätte
ich ganz schöne Schwierigkeiten! « »Willst du etwa auch auf den
Baum klettern?« »Ich hab beinahe den
Eindruck, dass die Menschen keine andre Wahl haben«, murmelte er. »Es ist,
als wachse diese Wurzel in ihrem Körper: Sie müssen klettern, höher und immer
höher. Und wenn sie gegen die Religionen kämpfen, dann gibt das wieder einen
Religionskrieg und so ... « »Du hast mir nicht
geantwortet, Theo.« »ja, ich hab Lust zu
klettern. Aber nicht allzu weit. ich würd's mir gern auf einem niedrigen Ast
bequem machen, von wo ich den Efeu überwachen könnte. Und den Gärtner
kontrollieren, ihm sagen, dass er nicht zu viel abschneiden soll, dass er
sauber sägen soll, damit er den Baum nicht beschädigt und überall Äste
absplittern. Ich würd ihm auch sagen, den Baum im Frühling in Ruhe zu lassen:
Es gibt eine Zeit des Auslichtens und eine Zeit des Düngens. Ich würd ihn
bitten, keine Gitter vor bestimmte Zweige zu machen. Und die Vogelnester
nicht zu entfernen, auch wenn die Vögel Dreck machen. Der Vogeldreck gehört
zum Leben des Baums.« »Ganz offensichtlich bist du
noch immer ein überzeugter Ökologe! «, seufzte sie. »Ich seh aber bei dem,
was du erzählst, nichts, was mit Religion zu tun hat. « »Tut mir Leid, Oma«, sagt er
nach kurzem Schweigen. »Du hast deinen Zweig bereits gefunden. Ich suche ihn,
das ist ein Unterschied.« »Lass mich mit diesem Baum in
Frieden, der keine Früchte hervorbringt! «, rief sie. "O doch, das tut er!
Zitronat‑Zitronen, Weintrauben, Weizenkörner und Fonio‑Körner,
Wunderpfirsiche ‑ einen ganzen Korb voller Früchte! Mein Baum ist
wunderbar: Ganz allein bringt er die Früchte der Welt hervor! und all die
Tiere, die an seinem Fuß leben! Stier, Ziege, Widder, Hahn, Schlange, Adler,
Lamm, Reiher, Ratten, die Vögel des heiligen Franziskus gar nicht mitgezählt.
Das ist der Baum des Paradieses! « »Wart nur! «, drohte sie. »
Man wird schnell aus dem Paradies verjagt!« »Das ist das Ärgerliche an
Gott. Er ist ganz schön heftig! Wenn er nicht zufrieden ist, kommt er gleich
mit dem Blitz, das ist doch etwas übertrieben. « »Wer bist du eigentlich, dass
du über Gott urteilst?«, rief sie. » Ich bin nur ich. Okay, das
ist nicht viel. Aber wenn du logisch denkst, wirst du zugeben, dass Gott mich
so geschaffen hat. « » Na, da hat Gott ja was
Schönes geschaffen! « »Siehst du, du urteilst auch!
Warum willst du mir meinen Zweig nicht lassen?« »Weil ... Ich weiß nicht! Du
machst mich ganz benommen. Das entspricht nicht meiner Vorstellung der Dinge.
ich hatte nicht erwartet ... Nun, wer hat dich geheilt, Theo?« »Gute Gärtner. Es gibt
überall welche.« »Also nicht Gott?«, fragte
sie besorgt. "Es war der Baum«,
antwortete er dickköpfig. »Ich will ihn gern Gott nennen, wenn dir das
gefällt. « ------------------------------------------------------------------------------------- Kapitel aus dem Buch „Theos Reise“ von Catherine Clément |
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